Se Youn Kim

© Se Youn Kim, 2014

 

„Es gab eine Person.
Sie ist verschwunden. Ihre Sachen sind auch verschwunden.“
(Ausschnitt aus einem Text von Se Youn Kim)

Erinnerungsstücke –

Man bindet sich an Dinge, an Objekte, die zum Repräsentanten des Erlebten, der eigenen Vergangenheit werden. Die immaterielle, flüchtige Erinnerung erfährt durch sie eine Materialisierung. Das Erinnerungsstück kann – anders als die Erinnerung selbst, der das Vergessen droht, – einigermaßen unbeschadet in die Gegenwart überführt werden. An dieses „Stück“ aus der Vergangenheit heften sich Erzählungen. Kleidungsstücke sind manchmal solche Erinnerungsstücke. Sie sind, solange sie getragen werden, dem Körper so nah wie sonst kaum ein Ding, dienen dem Schutz, aber auch der Kommunikation. Wie ein Zeichensystem schaffen und vermitteln sie Identität(en). An abgelegten Kleidern, die zu Erinnerungsstücken werden, haftet so scheinbar ein Stück der eigenen Identität und Geschichte.

96 Pieces hatte Se Youn Kim in ihrem Kleiderschrank, sie hat sie am Körper getragen, sie haben sie begleitet, in den sieben Jahren, die sie in Deutschland lebte. Jedes der Stücke hätte vielleicht ein Erinnerungsstück werden können. Doch mit dem Ende ihres Studiums und der Rückkehr nach Korea, vernichtet die Künstlerin all ihre Kleider, zerlegt sie und eliminiert damit auch die Potentiale ihrer Erzählbarkeit. Die Dinge der gelebten Zeit werden zu Fasern und Staub – so wie auch die Erinnerung langsam an Form verliert, bis sie zerfällt.

Diese Geste der Auslöschung und Vernichtung ist nicht nur eine radikale künstlerische Geste, sondern eine beinah existentielle Tat, ein absoluter Akt, der den Betrachter mit der Möglichkeit der irreversiblen Veränderung, mit dem Erkennen und Aushalten von Leere konfrontiert.

Schon in früheren Arbeiten von Se Youn Kim war die Auslöschung zentrales Moment. So ersuchte sie beispielsweise die Erlaubnis, historische Monumente im Stadtraum Münchens sowie in den Gängen der Akademie zu zerstören und lediglich Staubhaufen an ihrem ursprünglichen Standort zu hinterlassen. Ihre Gesuche wurden abgelehnt. Das Bild der niedergerissenen Skulpturen im Kopf der Beteiligten und Betrachter ließ sich jedoch kaum verbieten und so präsentierte die Künstlerin den Emailverkehr mit Anfragen und Ablehnungsbegründungen gegenüber der Skulpturen in den Gängen der Akademie. Dies provozierte beim Betrachter nicht nur Bilder der zerstörten Figuren, sondern auch ein Nachdenken über die Bedeutung und Relevanz von Denkmälern in öffentlichen und halböffentlichen Räumen. Mit der Arbeit 96 Pieces vollzieht Se Youn Kim tatsächlich den zerstörerischen Akt, rückt ihn an ihre eigene Körperlichkeit und Biografie heran und weist zugleich weit über diese heraus. Denn der Staub als Material erinnert nicht nur an den Verfall aller unbelebten und belebten Materie zu Staub, sondern auch an die die Entstehung aller Dinge aus dem Staub.

96 Pieces spiegelt so nicht ausschließlich einen Akt der Zerstörung, denn Staub und Fasern werden in eine neue Form überführt. Zu der Radikalität der zerstörerischen Geste paart sich die abstrakten Schönheit aus Material, Farbe und einer neuen Form – eine reduzierte Form, die als fragile Installation zugleich ihre Auflösung zurück zu Staub schon in sich trägt.

Text: Greta Hoheisel

Se-Youn Kim (1986 Seoul, Südkorea) beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit dem Themenkomplex Dekonstruktion, Rekonstruktion und Verwandlung von bekanntem Material. Hieraus entstehen sehr persönliche Werke, wie 96 pieces, für das die eigene jüngste Vergangenheit der Künstlerin die Grundlage bildet. Die abstrakte Installation besteht aus den Fasern und Fäden aller 96 Kleidungsstücke, die sie während ihrer Zeit an der Kunstakademie getragen hat und die hierfür aufgetrennt oder pulverisiert wurden. Für 96 pieces #2  hat Se-Youn Kim dieses verwandelte Material noch einmal verwandelt, indem sie aus den einzelnen Fasern -nach Farben sortiert- hauchdünnes Papier geschöpft und so in eine neue Form überführt hat. Die Kleidung, die eine lange Zeit zum Schutz, zur Kommunikation und als Ausdrucksmittel gedient hat, ist unwiederbringlich zerstört und es bleibt die abstrakte Schönheit von Farbe und Form.

 

VITA
1986 geboren in Seoul. Republik Korea
2005 – 2007 Studium des Textiledesigns, Hongik University, Seoul, Süd Korea
2008 – 2011 Studium der Bildhauerei, AdBK München, Deutschland (Prof. Nikolaus Gerhart)
2011 – 2014 Studium der Bildhauerei, AdBK München, Deutschland (Prof. Olaf Nicolai)
2014 Diplom bei Prof. Olaf Nicolai
lebt und arbeitet in Deutschland und Seoul, Süd Korea

EXHIBITIONS
2009
“Künstlerische Heimat”, Fábrica do Braco de Prata, Lissabon, Portugal
2010
“Nikolaus Gerhart und ausgewählte Studenten”, Walter Storms Galerie, München, Deutschland
“Zimmer Frei”, Hotel Mariandl, eine Ausstellung des Münchener Kulturreferats, München, Deutschland
2012
“Sammlung+Gartenhaus”, Gartenhaus der Kunst, München, Deutschland
2014
“Diplom 2014”, AdBK München, Deutschland
“TRUE LAB”, EIGEN + ART Lab Berlin, Deutschland
“seemed like a good idea at the time”, Sperling München, Deutschland

SCHOLARSHIPS/RESIDENCIES
2009
Fábrica do Braco de Prata, Lissabon, Portugal
2010
Oskar Karl Forster scholarship